Tip:
Highlight text to annotate it
X
Übersetzung: Norbert Langkau Lektorat: Inga Rodermund
Ich werde diesen Tag
im Frühjahr 2006 nie vergessen.
Ich war Assistenzarzt
am Johns-Hopkins-Krankenhaus
und hatte Notdienst.
Gegen zwei Uhr morgens wurde ich von der Notaufnahme angepiept,
um mir eine Frau mit einem
diabetischen Fußgeschwür anzusehen.
Ich erinnere mich noch an den Geruch verwesenden Fleisches,
als ich den Vorhang zurückzog, um sie mir anzusehen.
Alle dort waren sich einig, dass diese Frau sehr krank und
zu Recht im Krankenhaus war.
Das stand außer Frage.
Die Frage, die man mir stellte,
war eine ganz andere, nämlich, ob sie eine Amputation brauchte.
Wenn ich heute an diese Nacht zurückdenke
wünsche ich mir verzweifelt, ich hätte diese Frau in dieser Nacht
mit genau so viel Empathie und Mitgefühl behandelt
wie die 27-jährige frisch Verheiratete, die drei Nächte zuvor
mit Schmerzen im unteren Rücken
in die Notaufnahme kam,
die sich als fortgeschrittener Bauchspeicheldrüsenkrebs erwiesen.
In ihrem Fall wusste ich, dass ich
ihr Leben nicht retten konnte.
Der Krebs war schon zu weit fortgeschritten.
Ich fühlte mich verpflichtet,
alles zu tun, um ihr den Aufenthalt
möglichst angenehm zu machen. Ich holte ihr
eine warme Decke und eine Tasse Kaffee.
Auch für ihre Eltern.
Aber das wichtigste ist, dass ich sie nicht verurteilte,
weil sie natürlich selbst nichts
für die Krankheit konnte.
Warum bloß brachte ich also ein paar Nächte später
in genau dieser Notaufnahme, als ich entschied,
dass der Fuß der Diabetikerin tatsächlich amputiert werden musste –
der Patientin so viel Verachtung entgegen?
Anders als die Frau in der Nacht vorher
hatte diese Frau Typ-2-Diabetes.
Sie war fett.
Wir wissen alle: Das kommt von
zu viel Essen und zu wenig Bewegung.
Was ist daran so schwer zu begreifen?
Als ich sie da im Bett liegen sah, dachte ich,
»Hättest du nur ein kleines bisschen
auf dich Acht gegeben, wärst du jetzt nicht in dieser Situation
mit einem wildfremden Arzt,
der dir gleich den Fuß amputiert.«
Warum fühlte ich es gerechtfertigt, sie zu verurteilen?
Ich würde ja gerne sagen: »Keine Ahnung.«
Aber leider weiß ich es.
In meiner jugendlichen Überheblichkeit
dachte ich, ich wisse alles über sie.
Sie hatte zu viel gegessen. Sie hatte Pech.
Sie bekam Diabetes. Fertig.
Ironischerweise forschte ich
zu der Zeit an Krebs,
genauer gesagt, an immunbasierter Melanom-Therapie,
und in der Welt hatte ich gelernt, alles in Frage zu stellen,
alles auf den Prüfstand zu stellen,
und dabei die höchsten wissenschaftlichen Standards einzuhalten.
Aber wenn es um eine Krankheit wie Diabetes ging,
an der achtmal so viele Amerikaner sterben wie an Melanomen,
stellte ich die gängige Meinung nicht in Frage.
Tatsächlich nahm ich an, dass der Krankheitsverlauf
wissenschaftlich feststand.
Drei Jahre später wurde ich eines Besseren belehrt.
Aber diesmal war ich der Patient.
Ich trainierte jeden Tag drei bis vier Stunden
und befolgte jede Ernährungsvorschrift,
aber trotzdem nahm ich stark zu
und bekam das sogenannte metabolische Syndrom.
Vielleicht haben Sie davon gehört.
Ich war insulinresistent geworden.
Man kann sich das Insulin als eine Art Haupthormon vorstellen,
das steuert, was der Körper mit der Nahrung tut, die man isst,
ob er sie verbrennt oder speichert.
Im Fachjargon nennt man das Brennstoffverteilung.
Mangelnde Insulinproduktion ist mit Leben unvereinbar.
Insulinresistenz, wie der Name schon sagt,
bedeutet, dass die Zellen vermehrt resistent
gegen die Wirkung des Insulins werden.
Hat man erst mal Insulinresistenz
ist man auf dem besten Weg, an Diabetes zu erkranken,
was dann passiert, wenn die Bauchspeicheldrüse
nicht mehr mit der Insulinproduktion hinterherkommt.
Dann steigt der Blutzuckerspiegel,
und eine ganze Reihe pathologischer Ereignisse
setzt ein, gerät außer Kontrolle, und kann schließlich
zu Herz-Erkrankungen, Krebs oder sogar Alzheimer führen,
und eben zu solchen Amputationen wie bei dieser Frau vor ein paar Jahren.
Aus Angst davor stellte ich sofort radikal meine Ernährung um,
nahm Dinge hinzu oder ließ Dinge weg, von denen
die meisten von Ihnen garantiert schockiert wären.
Damit verlor ich fast 20 Kilo, obwohl ich kurioserweise weniger Sport machte.
Wie man sieht, bin ich nicht mehr übergewichtig.
Und was noch besser ist: Die Insulinresistenz ist weg.
Als Wichtigstes aber blieben mir
drei brennende Fragen, die mir nicht aus dem Kopf gingen:
Wieso passierte das mir, der ich doch
anscheinend alles richtig gemacht hatte?
Wenn das herkömmliche Wissen über Ernährung
bei mir nicht zutraf, war das auch bei anderen der Fall?
Durch all diese Fragen
wurde ich fast manisch besessen davon,
den tatsächlichen Zusammenhang zwischen
Adipositas und Insulinresistenz zu verstehen.
Die meisten Forscher glauben, dass Adipositas
die Ursache für Insulinresistenz ist.
Die logische Konsequenz ist, dass, um Insulinresistenz zu behandeln,
die Leute abnehmen müssen. Oder etwa nicht?
Man behandelt die Adipositas.
Aber was wäre, wenn es anders herum wäre?
Wenn Adipositas gar nicht die Ursache für Insulinresistenz ist?
Wenn sie nur ein Symptom eines viel größeren Problems ist,
die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs?
Das hört sich jetzt vielleicht verrückt an, wo wir offensichtlich gerade mitten in einer
Adipositas-Epidemie stecken, aber lassen Sie mich erklären:
Was, wenn Adipositas nur ein Mechanismus ist,
um mit einem weit schlimmeren Problem
unterhalb der Zelle fertig zu werden?
Ich sage nicht, Adipositas sei etwas Gutes,
sondern dass sie vielleicht das kleinere
von zwei Übeln für den Stoffwechsel ist.
Man kann sich Insulinresistenz vorstellen als die verminderte Fähigkeit,
den Brennstoff zu verteilen,
wie ich vorhin schon erwähnte,
wobei die aufgenommenen Kalorien
in geeigneter Weise verbrannt oder gespeichert werden.
Wenn wir insulinresistent werden,
gerät diese Selbstregulierung aus dem Gleichgewicht.
Wenn dann also das Insulin zu einer Zelle sagt:
»Verbrenne mehr Energie als du als sicher erachtest«,
dann sagt die Zelle:
»Nein danke – ich speichere lieber die Energie.«
Und weil den Fettzellen tatsächlich die meisten
komplexen Mechanismen anderer Zellen fehlen,
scheinen sie der beste Speicherort zu sein.
Für viele von uns, etwa 75 Millionen Amerikaner,
ist die zutreffende Folge auf Insulinresistenz
vielleicht, es als Fett zu speichern, und nicht umgekehrt
nämlich Insulinresistenz als Folge des Fettwerdens zu bekommen.
Das ist ein sehr feiner Unterschied,
der aber tiefgreifende Folgen haben kann.
Schauen wir uns folgende Analogie an:
Stellen Sie sich vor, Sie stoßen sich aus Versehen am Couchtisch
und bekommen einen blauen Fleck am Schienbein.
Der tut natürlich höllisch weh, und wahrscheinlich
mag man die Verfärbung nicht, aber wir wissen alle,
dass der blaue Fleck an sich nicht das Problem ist.
Das Gegenteil ist der Fall: Es ist eine gesunde Reaktion auf den Stoß,
die Abwehrzellen stürmen zur Verletzungsstelle,
räumen die Zelltrümmer weg und verhindern die Ausbreitung
einer Entzündung in den restlichen Körper.
Stellen Sie sich nun vor, wir glaubten, der blaue Fleck sei das Problem
und würden eine riesige medizinische Einrichtung
und eine Kultur zur Behandlung blauer Flecken entwickeln
mit Abdeckcremes, Schmerzmitteln, allem Möglichen
und dabei die Tatsache ignorieren, dass sich die Menschen immer noch
ihre Schienbeine an Couchtischen stoßen.
Wäre es nicht besser, die Ursache zu bekämpfen –
den Menschen zu sagen, sie sollen besser aufpassen,
wenn sie durch das Wohnzimmer gehen –
statt der Auswirkung?
Ursache und Wirkung richtig zu erkennen
macht einen enormen Unterschied.
Wenn man das falsch macht, ist das zwar gut
für die Aktionäre der Pharmaindustrie,
hilft aber den Menschen mit blauen Flecken überhaupt nicht.
Ursache und Wirkung.
Ich behaupte,
dass wir Ursache und Wirkung bei Adipositas
und Insulinresistenz vielleicht vertauscht haben.
Vielleicht sollten wir uns fragen,
ob es sein könnte, dass die Insulinresistenz die Ursache
für Gewichtszunahme und Adipositas-bedingte Erkrankungen ist –
zumindest bei den meisten Menschen?
Was wäre, wenn Adipositas lediglich die metabolische Reaktion
auf etwas viel Bedrohenderes wäre,
eine zugrundeliegende Seuche,
die uns Sorgen machen sollte?
Hier einige aussagekräftige Fakten:
Wir wissen, dass 30 Millionen Übergewichtige
in den USA keine Insulinresistenz haben.
Sie scheinen übrigens auch kein
höheres Krankheitsrisiko aufzuweisen als schlanke Menschen.
Umgekehrt wissen wir auch, dass sechs Millionen Schlanke
in den Vereinigten Staaten insulinresistent sind,
und die sind sogar noch anfälliger für
die erwähnten Stoffwechselerkrankungen
als die Fettleibigen.
Ich weiß nicht, warum das so ist,
aber vielleicht wissen deren Zellen noch nicht,
wie sie mit dem Energieüberschuss richtig umgehen sollen.
Wenn man also fettleibig ohne Insulinresistenz
und schlank und insulinresistent sein kann,
liegt es nahe, dass Adipositas nur stellvertretend
für das steht, was wirklich passiert.
Was wäre also, wenn wir den falschen Krieg führen,
gegen Adipositas statt gegen Insulinresistenz?
Oder noch schlimmer: wenn wir den Dicken Vorwürfe machen –
beschuldigen wir dann nicht die Opfer?
Was wäre, wenn unsere elementaren Vorstellungen über Adipositas
schlichtweg falsch sind?
Ich persönlich kann mir den Luxus der Arroganz nicht mehr leisten,
und schon gar nicht den der Gewissheit.
Ich habe meine eigenen Ideen, was dem zugrunde liegen könnte,
aber ich bin sehr offen für andere.
Weil ich dauernd danach gefragt werde,
hier meine Hypothese dazu:
Eine Zelle will sich durch die Insulinresistenz
wahrscheinlich nicht
vor zu viel Nahrung schützen.
Es ist vermutlich eher vor zu viel Glukose: Blutzucker.
Wir wissen, dass Weißmehl und Stärke
den Blutzuckerspiegel kurzfristig erhöhen,
und es gibt sogar Anzeichen dafür anzunehmen,
dass Zucker direkt zu Insulinresistenz führen kann.
All diese physiologischen Prozesse zusammengenommen
lassen mich vermuten, dass unsere vermehrte Aufnahme
von Weißmehl, von Zucker und Stärken
das massenhafte Auftreten von Adipositas und Diabetes verursacht,
aber wegen der Insulinresistenz,
und nicht unbedingt nur wegen zu viel Essen und zu wenig Bewegung.
Meine 20 Kilo habe ich damals verloren,
indem ich diese Dinge wegließ –
was mich zugegebenermaßen wegen dieser persönlichen Erfahrungen
voreingenommen aussehen lässt.
Das muss aber nicht unbedingt falsch sein.
Wichtig dabei ist, dass das alles wissenschaftlich überprüfbar ist.
Der erste Schritt ist zu akzeptieren,
dass unsere heutigen Ansichten über Adipositas,
Diabetes und Insulinresistenz möglicherweise falsch sind
und daher überprüft werden müssen.
Ich verwette meine Karriere darauf.
Heutzutage widme ich mich nur noch diesem Problem und bin bereit,
dahin zu gehen, wohin auch immer die Wissenschaft mich führt.
Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr so tun will und kann,
als hätte ich Antworten, wenn ich keine habe.
Alles was ich nicht weiß, hat mich Demut gelehrt.
Das letzte Jahr durfte ich als Teil
des großartigsten Teams von
Diabetes- und Adipositas-Forschern im Land
an diesem Problem mitarbeiten.
Und das Beste daran: Wir haben uns wie Abraham Lincoln
mit einem Team von Rivalen umgeben.
Das Team besteht aus den besten und klügsten Köpfen,
die alle unterschiedliche Hypothesen darüber haben,
was das Kernproblem der Epidemie ist.
Einige glauben, es seien zu viele Kalorien,
andere, es sei zu viel Nahrungsfett,
noch andere, es sei zu viel Weißmehl und Stärke.
Aber dieses Team von interdisziplinären,
hoch-skeptischen und -talentierten Forschern
ist sich in zwei Punkten einig.
Erstens ist das Problem einfach zu wichtig, um weiter ignoriert zu werden
nur weil wir glauben, die Antwort zu kennen.
Zweitens können wir es mit dem Besten,
was Wissenschaft zu bieten hat, lösen,
wenn wir nur bereit sind, falsch zu liegen
und mit herkömmlichen Wissen abzuschließen.
Ich weiß, man hätte gerne sofort eine Antwort,
eine Maßnahme oder Strategie, eine Art Ernährungsrezept –
iss das, iss das nicht –
aber wenn wir alles richtig machen möchten,
müssen wir noch viel intensiver forschen,
bevor wir so ein Rezept schreiben können.
Nur ganz kurz: unser Forschungsprogramm
konzentriert sich auf drei Meta-Themen oder Fragen.
Erstens: Wie und durch welche molekularen Mechanismen
wirken Nahrungsmittel auf unseren Stoffwechsel,
unsere Hormone und Enzyme?
Zweitens: Können wir daraus
eine sichere und einfach umsetzbare Methode
für die notwendige Ernährungsumstellung ableiten?
Drittens: Wenn wir solche Methoden
erst einmal identifiziert haben,
wie können wir dann die Menschen dazu bewegen,
das mehr als Normalfall
denn als Ausnahme anzusehen?
Zu wissen was zu tun ist heißt ja nicht,
dass man es auch tut.
Manchmal muss man den Menschen nur den richtigen Anstoß geben,
um es einfacher zu machen, und ob man es glaubt oder nicht,
auch das kann wissenschaftlich erforscht werden.
Ich weiß nicht, wohin die Reise geht,
aber zumindest eines scheint mir klar zu sein:
Wir können unseren Patienten mit Übergewicht oder Diabetes
keine Vorwürfe machen, so wie ich es getan habe.
Die Meisten von Ihnen wollen ja
das Richtige tun, aber sie müssen wissen,
was das Richtige ist, und es muss funktionieren.
Ich träume von dem Tag, an dem unsere Patienten ihre überflüssigen Pfunde
loswerden und ihre Insulinresistenz
selbst kurieren können, weil wir Mediziner
unseren überflüssigen Gedankenballast
losgeworden sind und uns selbst
von dem Widerstand gegen neue Ideen kuriert haben,
damit wir zu unseren Idealen zurückkehren können:
Offenheit für Neues, den Mut, unhaltbare Ideen über Bord zu werfen,
und das Wissen, dass wissenschaftliche Wahrheit
nicht in Stein gemeißelt ist, sondern
sich ständig weiter entwickelt.
Dem treu zu bleiben wird sowohl unseren Patienten
als auch der Wissenschaft besser bekommen.
Wenn Adipositas nur der Stellvertreter
für eine Stoffwechselkrankheit ist,
zu was sollte dann die Bestrafung derjenigen mit dem Stellvertreter gut sein?
Manchmal denke ich an diese Nacht in der Notaufnahme
vor sieben Jahren zurück.
Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit dieser Frau reden.
Ich würde ihr gerne sagen, wie leid es mir tut.
Ich würde ihr sagen: »Als Arzt habe ich Ihnen
die beste medizinische Versorgung angedeihen lassen,
derer ich fähig war – als Mensch aber
hatte ich Sie fallen lassen.
Sie brauchten mein Urteil und meine Verachtung nicht,
Sie brauchten meine Empathie und mein Mitgefühl, und vor allem
brauchten Sie einen Arzt,
der bereit war, in Betracht zu ziehen,
dass vielleicht nicht Sie das System im Stich gelassen hatten,
sondern das System, von dem ich ein Teil war,
Sie im Stich gelassen hatte.«
Sollten Sie das jetzt sehen,
hoffe ich sehr, dass Sie mir vergeben können.
(Beifall)